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Mythos Digitalisierung – Die oft traurige Realität der Digitalisierungsprojekte




Der frühere Schwergewicht-Box-Weltmeister und Bruder des heutigen Kiewer Bürgermeisters, Wladimir Klitschko prägte mal den Satz „Wer sich nicht digitalisiert, wird ausgeknockt“. Die Digitalisierung ist in aller Munde: Bestehende Familienunternehmen und Mittelständler, wie Vorwerk oder Würth, digitalisieren ihre Kundeninteraktionen und Produkte, Großkonzerne wie Volkswagen oder Siemens, digitalisieren ihre Produktions- und Administrationsprozesse, und Startups wie Flixbus oder N26 wurden ehedem gleich auf komplett digitalisierte Geschäftsmodelle aufgebaut. Wer heute keine Digitalisierungsprojekte aufführt, keine spezifischen Digital-Teams (bzw. sogar extra „Chief Digital Officers“) vorweist oder digitalisierte Geschäftsmodelle bietet, der ist als Kunde, Lieferant, Arbeitgeber oder Geldgeber uninteres


Doch schauen wir uns mal die Realität hinter der Digitalisierung bei vielen Unternehmen an! Ist die Digitalisierung nicht in Wahrheit bei vielen Bestandsunternehmen eher ein Mythos? Gerade in den letzten Monaten musste ich nämlich als Business Coach bei vielen sogenannten Digital-Projekten bekannter Großunternehmen mal wieder pure Ernüchterung erleben. Anstelle über neue Mehrwerte für die Kunden (wie Individualisierung, Omnichannel, on Demand, Vorhersagen, Fernwartungen etc.), moderne Leistungsarchitekturen (wie Clouddienste, Plattformen oder Ökosysteme) oder digital-orientierten Erlösmodellen (wie laufende und sogar transaktionsunabhängige Einnahmen dank Abonnements, SaaS, CaaS oder Provisionen) zu diskutieren, mussten wir uns mit jenen Hausaufgaben beschäftigen, die man schon in den letzten 20 Jahren hätte erledigen müssen und die trotzdem nicht umgesetzt werden. Und dies betraf alle drei Themen der Digitalisierung: die Vernetzung, die Nutzung der Daten sowie die digitale Transformation.


Starten wir kurz mit der Vernetzung: Eigentlich gilt das Motto „alles was digital vernetzt werden kann, wird digital vernetzt“. Das gilt wahrscheinlich bei fast allen von uns beim Smartphone oder (dank der Pandemie) bei Video-Konferenzen, aber schon nicht mehr in den eigentlichen Unternehmensprozessen. So muss ich im Jahr 2022 immer noch bei einer großen Versicherung meine Rechnung als Berater per Brief einreichen, damit diese dort eingescannt und halb-manuell weiterverarbeitet wird, ein anderer Mandant (ein weltweit agierendes Logistikunternehmen) schaffte es weiterhin nicht, einige hundert untereinander vernetzte Tablet-Computer an seine Servicemitarbeiter zu verteilen (ganz zu schweigen mit einer attraktiven Software, die man auch nutzen möchte) und bekannte Industriekunden weigern sich zur transparenten Vernetzung mit ihren Anlagenbauern zwecks Austausch von Maschinendaten zur Fernwartung und Vorhersage von Wartungsintervallen.


Und selbst wenn dann Systeme miteinander vernetzt werden, dann kommen die nächsten Barrieren in Spiel. Zwar lautet ein weiteres Motto „alles was man digitalisieren kann, wird digitalisiert (ganz im Sinne einer Automatisierung und Datenverarbeitung)“. Aber was ist gerade in deutschen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen (wie Maschinenbauer, Banken oder Krankenhäusern) oft die Realität: fehlende oder schlechte digitale Daten (Datenqualität), zu viele nicht synchronisierte Datenquellen (Datensilos) sowie fehlende Schnittstellen der unterschiedlichen IT-Systeme (Systeminseln). Manche Banken haben daher den gleichen Kunden in mehreren Systemen gespeichert und sprechen ihn daher auch bei Marketing- und Vertriebsmaßnahmen gleich mehrfach parallel (und somit störend) an, umgekehrt muss ein Patient seine Stammdaten in verschiedenen Abteilungen des gleichen Krankenhauses gleich mehrfach von neuem eingeben, oder Maschinenbauer verfügen gar nicht über digitale Zwillinge ihrer Anlagen als Basis für eine saubere Dokumentation oder gar Simulationen und Vorhersagen. Die Gründe hierfür liegen eher selten in technischen oder regulativen Aspekten, sondern vielmehr in emotionalen Barrieren gegen eine Automatisierung und Datenverarbeitung. Es geht vor allem um Fürstentümer mit Macht- und Ego-Interessen zwischen Abteilungen, Betriebsräten, Datenschutzbeauftragten, Kunden oder Lieferanten. Aber ohne nutzbare Daten keine Automatisierung von Prozessen, keine Sichtbarkeit und Transparenz über Unternehmensvorgänge, um daraus Vorteile wie Targeting, Condition Monitoring, Predictive Maintenance oder Fraud Detection abzuleiten. Wie soll Business Intelligence, Big Data oder gar Machine-Learning (also die schwache künstliche Intelligenz) funktionieren, wenn es keine weiter verarbeitbaren, qualitativ hochwertigen digitalen Daten gibt?



Die letzten beiden Absätze behandelten bisher nur die reine Digitalisierung, also die Verwendung digitaler Technologien zur Optimierung mehr oder weniger vorhandener Prozesse und Strukturen. Noch viel spannender ist die digitale Transformation, bei der digitale Technologien dazu verwendet werden, vollkommen neue Prozesse, Produkte aber auch Führungs- und Geschäftsmodelle zu entwickeln. Wie sagte doch schon vor Jahren der frühere Deutschland-Chef von Telefonica Thorsten Dirks: „Wenn sie einen Scheiß-Prozess digitalisieren, haben Sie einen scheiß digitalen Prozess!“. Und genau darum geht es in der digitalen Transformation: Nicht einfach eingefahrene Lösungen, Prozesse oder Strukturen zu digitalisieren, sondern ganz neue Mehrwerte für die Kunden bzw. neue Möglichkeit in der Leistungsarchitektur zu etablieren. Aber wie sieht das die Realität aus? Es bleibt bei vielen Digitalisierungsinitiativen doch beim alten Mist, dem alten „Scheiß“. Das Top Management ruft zwar nach „einem Neuanfang“, aber nur nach dem Motto „Wasch mich, aber mach uns nicht nass“. Bestehende Kulturen, Organisations- oder Kundenstrukturen dürfen auf jeden Fall nicht angefasst werden, etablierte Umsatz- und Preismodelle sind tabu und vorhandene Produktions- und Administrationskapazitäten sind heilig. Maximal mittels Corporate Startups (entweder als Neugründung oder Abspaltung / Unbundling) wird – eher Alibi-mäßig – der Versuch unternommen, doch mal neue Wege zu gehen. Jedoch werden diese dann spätestens beim Reporting und Compliance oft wieder in den Mutterkonzern zurückgerufen und neutralisiert.


Also doch „hoffnungsloses Digital-Deutschland“? Nein nicht ganz! Wir erleben mal wieder die Darwin’sche Auslese von Unternehmen: Während sich eine Vielzahl von etablierten Unternehmen nicht konsequent an die Digitalisierung und digitale Transformation macht, so schaffen es doch eine kleine Anzahl bestehender Firmen aber auch diverse Neugründungen, die digitale Technologien zu ihrem Wettbewerbsvorteil zu nutzen. Egal ob in der Versicherungswirtschaft (wie HUK24), im Einzelhandel (wie Otto inkl. AboutYou), als Plattform (wie Scout24), in der Automobilbranche (wie ShareNow oder AMS von Daimler Truck), in allen Branchen bieten sich genügend Möglichkeiten, mittels digitaler Technologien und einem offenen Blick über den Tellerrand spannende neue Märkte zu erobern. Dabei lässt sich das eingangs erwähnte Zitat von Wladimir Klitschko derart umformulieren „Wer sich nicht konsequent digitalisiert und transformiert, wird ausgeknockt“. Und der Zug der Digitalisierung und digitalen Transformation nimmt noch mehr an Fahrt auf - ganz im Sinne des Ausspruchs des ehemaligen Deutschland-Chefs von Amazon, Ralf Kleber: „Wenn die Digitalisierung ein Restaurantbesuch wäre, dann wären wir gerade mal beim Gruß aus der Küche.“




Passend zu diesem Blog existiert eine Podcastfolge der Reihe KurzNachgedacht, zu finden u.a. hier:


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