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Kommt die Renaissance des Buches?



Rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse, diskutiere ich mit Gerhard Beckmann in der Titelgeschichte der aktuellen "BuchMarkt" Ausgabe über die Chancen der Buchindustrie in der "zweiten Welle der Digitalen Revolution". Ausgehend von dem aktuell kritischsten Sachbuch zur Auseinandersetzung mit dem Internet, Andrew Keen's "How to fix the future", fragen wir nach den Konsequenzen der Digitalisierung für den Buchmarkt und schauen dabei auch gezielt über den Tellerrand: Die alte Bedeutung von Service und Kundennutzen? Ist Amazon als Plattform überhaupt noch zu schlagen? Was wären disruptive Ansätze für den Buchmarkt?

bzw. hier der komplette Text:

Kommt die Renaissance des Buches?

Buchmarkt: Da hat nun heutzutage alle Welt die Digitalisierung im Mund. Wenn man aber genau hinhört, scheint doch mit „Digitalisierung“ jeder etwas anderes zu meinen. Was die einen als „technischen Fortschritt“ deklarieren, der angeblich alle wirtschaftlichen, politischen und geistigen Probleme lösen wird, sehen andere inzwischen als drohende Zerstörung bisheriger humaner Werte und Gesellschaftsformen – bewirkt durch einen eklatanten Missbrauch neuer Technologien, mit dem eine Handvoll privater Monopol-Unternehmen von historisch einmaligen Ausmaßen und Ressourcen hemmungsloser Macht- und Raffgier das Universum so radikal nach ihren Maßstäben „reformieren“ will, dass es die ärgsten Befürchtungen George Orwells übertrifft. Die meisten Leute aber – egal ob sie täglich Amazon, Google, Facebook, Microsoft und Apple nutzen oder nicht – haben offenbar nur ganz vage und unausgegorene Vorstellungen darüber, was „digitale Technologien“ bedeuten, welche Risiken sie heraufbeschwören, welche Chancen sie möglicherweise bieten. Wir scheinen uns in einem unglaublichen Zustand von geistiger Konfusion und Apathie zu befinden. Sollten wir da vorab nicht mal zu klären versuchen, um was es bei dieser digitalen Transformation der gesamten Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt geht?

Disselkamp: Man sollte sich einen Aspekt ganz klar und bewusst machen. Egal, um welche digitalen Technologien es gehen wird - ganz gleich, welche Richtung des Nutzens oder des Missbrauchs dieser Technologien sich durchsetzen werden -: Die Digitalisierung hat eine ähnliche Dimension wie die industrielle Revolution des 19. Und 20. Jahrhunderts. Sie bringt vergleichbare Verschiebungen in der fundamentalen Tektonik aber vor allem auch in der Art wie, wann und wo wir als Anbieter und Nachfrager tätig sind mit sich. Das heißt: Nichts wird mehr so bleiben, wie es einmal war. Ergo: Alles wird auf den Prüfstand kommen, oder: Alles muss hinterfragt werden. Daran wird kein Staat, keine politische Partei, weder Schulen noch Universitäten, keine Bürokratie, keine Branche, und, ob groß oder klein, nicht ein einziges Unternehmen vorbeikommen. Es ist eine Herausforderung, der sich im Übrigen auch jeder Einzelne zu stellen haben wird. Davon wird seine individuelle Existenz, seine persönliche Entwicklung und Freiheit abhängen.

Buchmarkt: Da sprechen Sie große Worte aus. Sind sie als Appell gedacht?

Disselkamp: Natürlich. Wir müssen die digitalen Technologien ernstnehmen und verstehen lernen, wie sie funktionieren und welche neuen Chancen bieten. Unbedingt. Daran mangelt es vielerorts immer noch sehr. Andererseits kann man, darf man sich nicht hinter ihnen verstecken. Für sich allein genommen lösen Technologien gar nichts von Belang. Sie sind keine Selbstläufer. Sie können die konkreten Fragen, die sich uns in den Weg stellen, beantworten helfen. Sie können zu einer Lösung der real existierenden Probleme führen, die uns bedrängen. Aber nur im Rahmen ihrer bewussten, klaren Nutzung als „Werkzeuge“ verantwortungsbewusster intelligenter „Menschen“, die „visionär“ objektive Ziele angehen.

Buchmarkt: Und warum sind dazu nun digitale Technologien so unumgänglich?

Disselkamp: in doppelter Hinsicht. Zuerst führen aktuelle technische Entwicklungssprünge und neue Technologien zu einer weiteren digitalen Transformation, also des branchenübergreifenden Wandels der Wirtschaft sowie Gesellschaft. Diese Transformation, mit ihren wirtschaftlichen Megatrends wie Netzwerkökonomie, Disintermediation, Serviceökonomie, Disruption und Plattformökonomie, wird die Situation des Buchhandels weiter dramatisch beeinflussen. Das wäre der eine Punkt. Der andere: Wenn Unternehmen etc. nicht von ihrer Perspektive, ihren Gegebenheiten und Notwendigkeiten her spezifische digitale „Denksysteme“ und disruptive Geschäftsmodelle entwickeln, haben sie keine Chance, gegen Amazon, Alibaba, Google, YouTube etc. zu bestehen. Nur wer gleichzeitig sein Bestandsgeschäft- auch mittels der digitalen Technologien - immer weiter optimiert, und gleichzeitig seine aktuellen Prozesse und Leistungen grundsätzlich in Frage stellt und nach disruptiven Geschäftsmodellen sucht, kann nachhaltig überleben. Wir nennen ein solches auf Effizienz aber auch Innovation ausgerichtetes Verhalten heute Ambidextrie, welches schon seit den 70iger Jahren in einigen Managementmodellen – zwar nicht mit diesem Namen, aber mit der gleichen Botschaft – gelehrt aber in vielen Branchen zu wenig gelebt wird.

Buchmarkt: Nehmen wir Amazon. Wir wollen uns hier schließlich doch der Buchbranche widmen.

Disselkamp: Amazon hat es geschafft, einen der oben genannten wirtschaftlichen Megatrend – der Disintermediation – entgegen zu wirken. Hierunter versteht man das Verschwinden von Intermediären (wie Händlern oder Banken) in einer Wertschöpfungskette. Amazon schafft dies durch Serviceleistungen, wie Vollsortiment, Bewertungen, Empfehlungen oder dem Prime Lieferservice. Nehmen Sie das maximale Angebot von Amazon und vergleichen Sie dies mit dem auf Mainstream ausgerichteten Angebot eines normalen Buchhändlers. Nur noch auf Nischen spezialisierte Buchhändler, wie z.B. für Kinderbücher oder Fachhändler in der Nähe von Universitäten, können da halbwegs mithalten. Vielen Mainstream Buchhändler fehlt zudem die Kraft der Beratung und Empfehlung, wie sie Amazon dank der Bewertungen der Konsumenten bietet. Böse gesagt: Amazon hat eigentlich alte Werte des Buchhandels in neue Standards umgesetzt, während der Buchhandel diese selbst an vielen Orten verloren hat.

Buchmarkt: Aber Sie erwähnen zu Recht, dass Amazon etablierte Ansätze des stationären Buchhandels fortführt….

Disselkamp. Gewiss. Nicht nur bei Amazon erleben wir nun, wie New-Economy Unternehmen erfolgreiche Konzepte der Old-Economy aufnehmen und in ihre Spielregeln integrieren. Und das ist die zentrale Botschaft. Klassische betriebswirtschaftliche Konzepte, wie z.B. Showrooms, Push Marketing, eine eigene Logistik (Lagerhäuser, Transportmittel) oder eigene stationäre Läden werden höchst konsequent nach den Grundregeln der Netzwerk- oder gar Plattform-Ökonomie gesteuert: Echtzeit-Daten über Omnichannel Kommunikations- und Vertriebswege, Skalierbarkeit, Skalen- und Netzwerkeffekte, Hoheit und maximale Kenntnisse aus allen Transaktionsdaten sowie Konzentration auf Kernkompetenzen und Delegation aller Basiskompetenzen auf Netzwerkpartner.

Buchmarkt: Amazon hat doch eigentlich auch nur auf Basis des „alten“ Buchhandels starten konnte, als das Unternehmen mit den etablierten Verlagen ein exemplarisches Distributionssystem entwickelt hat. Nur scheint das nicht einmal den Sortimentern mehr wirklich bewusst zu sein, geschweige denn den allermeisten Kunden, weshalb es auch nicht mehr recht funktioniert. Was meinen Sie, könnte da schiefgelaufen sein?

Disselkamp: Amazon hat sich von einem klassischen Händler, der lediglich den stationären Handel durch den Online-Handel getauscht hatte, in ein Plattformunternehmen weiterentwickelt. Damals entsprach Amazon – wie noch die heutigen Buchhändler - dem, was wir ein Pipeline Unternehmen bezeichnen. Hier findet die Wertschöpfung und Wertübertragung Schritt für Schritt statt. Anders bei Plattformen, welche zuerst einmal nur eine physische bzw. virtuelle Infrastruktur anbieten, auf welcher Anbieter und Anwender zusammentreffen und dank Interaktionen Nutzen (Wertschöpfung) ziehen können. Amazon Marketplace sowie Amazon Web Services (AWS) sind solch offene Plattformen, bei denen multiplen Anbietern und Nachfragern eine Vielzahl von Marktchancen mit attraktiven Vergütungs- und Servicemodellen offeriert werden.

Buchmarkt: Ist Amazon eigentlich unschlagbar?

Disselkamp: Auch Amazon ist verwundbar. Ich bleibe wieder beim Nischenbuchhändler mit einer klaren Spezialisierung, der dank spezialisierten Vollsortiment, kompetenter Beratung und erlebnisorientierten Umfeld (wie Ladengestaltung, Entertainment) seiner Zielkundschaft als Nutzenführer einen klaren Mehrwert bietet. Doch auch die digitale Transformation selbst birgt Gefahren für Amazon. So wie jeder seine eignen Videofilme auf YouTube platzieren bzw. jeder andere sich ebensolche Videofilme anschauen kann, könnten Hobby- sowie Profi-Autoren ihre Inhalte über neue Plattformen anbieten, die dank breiter Nachfragemasse sowie moderner Abrechnungssysteme (auch mittels Blockchain) viele größere Vermarktungs- und Vergütungsmöglichkeiten ermöglichen, als es die Pipeline des heutigen Buchhandels, mit ineffizienten Einkäufern, Lektoren und Marketingabteilungen (sog. Gatekeepern) bietet. Das einzige was hierzu noch fehlt ist die kritische Maße und die damit verbundenen Netzwerkeffekte für solche neuen Plattformen. Darum ist Amazon selbst auch noch nicht mit dem derartigen Angebot erfolgreich.

Buchmarkt: Sie sprachen gerade von der Hoheit und den maximalen Kenntnissen aus allen Transaktionsdaten bei der New-Economy. Ist das was ganz Neues?

Disselkamp: Überhaupt nicht. Schon seit Jahrzehnten weiß der Handel von dem Wert der Kunden- und Absatzzahlen. Doch hat er erstens an vielen Stellen nicht verstanden, dass sich heute viel mehr Daten sammeln und analysieren lassen, als dies noch vor Jahren möglich war (Stichwort: Big Data). Zweitens fehlen aber vielen Händlern immer noch die Möglichkeiten, die Daten über ihre Kunden und Transaktionen überhaupt elektronisch zur Verfügung zu haben. Sie kennen ihre Kunden nur als statische Ziffern oder GfK Daten. Anders die Unternehmen aus der Netzwerk- und Plattform-Ökonomie. Für sie fungieren Daten als integrierendes Bindemittel, welches alle Netzwerkteilnehmer (wie Anbieter, Nachfrager und Dienstleister), Geräte und Leistungen nahtlos zusammenarbeiten lässt. Diese Transaktionsdaten sind dann die Basis für vollkommen neue Erkenntnisse über Kaufgewohnheiten, Wünsche und Trends. Amazon weiß, was ich gerne lese und wofür ich mich interessiere. Darum leiten heute schon über 60% der Deutschen ihre Online-Produktrecherchen über Amazon und nicht mehr über Google und Co.

Buchmarkt: Im Buchhandel erleben wir das Ungleichgewicht mit einigen großen „Marktführern“, die ihre Gewinnorientierung primär auf eigene Konditionensteigerungen ausgerichtet haben, statt auf die Eigenheit der lokalen Kundschaft ihrer örtlichen Filialen. Hier gelten Mainstream-Großtitel als Bestseller, aber was ist ein Bestseller?

Disselkamp: Der Begriff „Beststeller“ wandelt sich für mich gerade aus einem rein marktanteilorientierten Verkaufserfolg in ein auf meine individuellen Bedürfnisse ausgerichteten Nutzen und Mehrwert. Also den „Bestseller“ für mich! Mit anderen Worten: Plattformunternehmen wie Amazon, Spotify, YouTube aber auch oder der chinesische Mega-Wettbewerber Alibaba, bieten uns dank ihrer Analysen unserer Transaktionen und Gewohnheiten sowie den vielen kundeneigenen Bewertungen eine Datenbasis, die jedem Individuum die besten Kaufoptionen aufzeigen. Wir nennen diese Art von Rating und Zusammenführung zwischen Nachfragern und Anbietern das sog. „Machting“ und die Plattformunternehmen daher auch „Matchmakers“. Erfolgreiche Plattformen bringen die richtigen Kunden mit den für sie relevanten Leistungen zusammen, während mir Großfilialisten nur die gängigen Themen aus der Spiegel-Bestseller oder GfK Liste anbieten.

Buchmarkt: Welche weiteren Trends der digitalen Transformation können noch auf die Verlage du Buchhändler wirken?

Disselkamp: Wenn ich mir die Frage stelle, wann, wie und wozu ich ein Buch benötige, fallen mir im Rahmen der digitalen Transformation einige neue Zukunftsbilder ein. Dazu gehört beispielsweise der von mir bezeichnete Megatrend der „Do-It-Yourself“ Bewegung, also der eigenen Herstellung eines gekauften, virtuellen Produktes, nach welcher ich mir mein Buch direkt beim Verlag kaufen und zuhause ausdrucken oder auf meinen eBook Reader laden kann. Dies korrespondiert mit dem Begriff des Prosumers, wo der Kunde gleichzeitig Produzent und Konsument wird, wie auch in dem schon genannten Beispiel, dass Profi- und Hobby-Autoren – wie bei YouTube – über Plattformen selbst ihren Inhalt vermarkten. Schon heute merke ich als Nicht-Beststeller Autor, dass mir die eigenen Marketing Maßnahmen über Social Media oder Amazon Bewertungen viel mehr helfen, als all die Verlage und Buchhandlungen. Betrachte ich zudem die Frage, warum ich überhaupt ein Buch lese, dann komme ich auf die beiden Antworten: Entertainment oder Fortbildung. Hier existieren bereits disruptive Alternativen für den Buchmarkt. So wie unsere Kinder immer mehr das Fernseher durch YouTube und Soziale Medien austauschen, kann auch das Buch beim Entertainment immer mehr an diese neuen Medien verlieren. Und bei der Fortbildung nutze ich schon heute moderne Online Medien wie Google, Wikipedia oder die eLearning Angebote internationaler Plattformen (wie TED, Udemy oder Cousera). Mit anderen Worten: YouTube und Co. sind für mich viel größere Wettbewerber für den Buchhandel, als Amazon.

Buchmarkt: Sind Bücher als echte Printprodukte damit gestorben?

Disselkamp: Echte Bücher sind damit nicht generell gestorben, doch ich kaufe schon heute nur noch (aufgrund ihres Inhalts oder ihrer Aufmachung) besonders attraktive Printprodukte. Kurzfristigen Mainstream lese ich vorwiegend über Online-Ausleihungen (wie von meiner Stadtbibliothek), über Zusammenfassungen (wie Blinklist) oder wir leihen uns im Freundeskreis untereinander die Printexemplare durch.

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